In den letzten Jahren ist (vor allem in den USA) gegenseitige Hilfe zu einem zentralen Punkt der anarchistischen und sozialistischen Bewegung geworden. Dies zeigt sich in Projekten wie Katastrophenhilfe, Gemeinschaftskühlschränken, Initiativen zur Schadensminimierung bei Drogenkonsum und der Erweiterung von langjährigen Gruppen wie „Food Not Bombs“, um nur einige zu nennen. In den sozialen Medien wird gegenseitige Hilfe nun sogar mit individuellen Geldspenden an Spendenaktionen in Verbindung gebracht. Da auch in der Schweiz die Praxis von z.B. „Volksküchen“ bzw. der „Küche für Alle“ verbreitet ist, sollten wir dies etwas näher betrachten.
Solidarität, nicht Wohltätigkeit
Das Kernkonzept, das Gruppen der gegenseitigen Hilfe vereint, ist die Aussage, dass ihre Arbeit „Solidarität, nicht Wohltätigkeit“ sei. Aber was bedeutet das in der Praxis? Aktivist*innen der gegenseitigen Hilfe behaupten, dass ihre Projekte und Aktionen nicht philanthropisch sind. Sie sehen sich nicht als wohlwollende Aussenstehende, die in Not geratenen Gruppen helfen, sondern betrachten sich als gleichwertig mit denen, denen sie helfen. Gegenseitige Hilfe wird daher als egalitäre Alternative zur Wohltätigkeit vorgeschlagen. Der zentrale Unterschied zwischen Wohltätigkeit und gegenseitiger Hilfe entsteht durch eine Verschiebung im Denkrahmen, der die Handlung motiviert und die Beziehung zwischen Hilfegebenden und -empfangenden definiert.
Unterschied ohne Differenz
Materiell gesehen ist der Unterschied zwischen „gegenseitiger Hilfe“ und Wohltätigkeit oft kaum mehr als Rhetorik. Welche Unterschiede, abgesehen von der Ästhetik, gibt es zwischen einer Suppenküche der Kirche und einer linken Volksküche? Wenig, wenn überhaupt. Dies soll gegenseitige Hilfsprojekte oder deren Unterstützer*innen nicht herabsetzen. Menschen in Not zu ernähren, zu kleiden und ihnen generell zu helfen, sind keine Dinge, die kritisiert werden sollten, selbst wenn es unter anderen ideologischen Vorzeichen geschieht. Dennoch behaupten die Befürworter*innen der gegenseitigen Hilfe, dass ihre Projekte von Natur aus politisch sind. Big Door Brigade – eine Website, die lokale Projekte zusammenfasst – sagt, dass gegenseitige Hilfe „eine Form der politischen Beteiligung“ sei, die darauf abzielt, „politische Bedingungen zu verändern“. Das sollte genauer betrachtet werden.
Den Unterschied finden
Der Anspruch, dass gegenseitige Hilfe von Natur aus politisch ist, wird im Buch Mutual Aid: Building Solidarity in This Crisis von Dean Spade ausgeführt. In dem Buch zieht er klare Parallelen zwischen den heutigen gegenseitigen Hilfsprojekten und den Serviceprojekten der Black Panther Party. Doch es gibt einen auffälligen Unterschied zwischen den meisten heutigen Versuchen der gegenseitigen Hilfe und den „Serve the People“-Initiativen von Gruppen wie den Panthers. Dieser Unterschied liegt in der fehlenden einheitlichen politischen Programmatik und den Verbindungen zu politischen Organisationen.
Der Panther-Plan
Die Black Panthers sahen ihre Programme als unmittelbare Hilfe für Bedürftige, aber auch, und das ist wichtig, als Teil eines umfassenderen politischen Programms, das darauf abzielte, diejenigen, denen sie halfen, verbindlich zu organisieren. Im Gegensatz zu den meisten heutigen Gruppen der gegenseitigen Hilfe pflegten die Panthers keine reine Dienstleistungsbeziehung zu den Menschen, mit denen sie in Kontakt kamen. Stattdessen waren die Programme ein Einstiegspunkt in ihre Organisation – eine Organisation, die systematisch ein politisches Programm entwickelte, um die Bevölkerung in eine kämpferische Kraft zu verwandeln, die in der Lage ist, eine sozialistische Revolution durchzuführen.
Was der gegenseitigen Hilfe fehlt
Das im vorherigen Abschnitt beschriebene Modell unterscheidet sich stark von dem, welches die meisten Gruppen der gegenseitigen Hilfe heute anwenden. Für die überwiegende Mehrheit dieser Gruppen beginnt und endet ihr Projekt mit dem unmittelbaren Ziel, Bedürftigen zu helfen. Das ist an sich nichts Schlechtes, doch es ist auch nichts, was von Natur aus politisch bedeutsam ist. Während diese Gruppen oft anmerken, dass sie „Bewegungsarbeit“ leisten, gibt es nur wenig Hinweise darauf, dass sie ihre Dienstleistungsprojekte systematisch mit umfassenden politischen Programmen oder kämpferischen Organisationen mit klaren Strategien zum Aufbau von Gegenmacht verknüpfen.
Eine Veranschaulichung
Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an, das zeigt, wie politische gegenseitige Hilfe eingesetzt werden sollte: Gewerkschaften unterhalten „Streikkassen“, um die unmittelbaren Bedürfnisse von streikenden Arbeiter*innen zu decken, da sie während des Streiks keinen Lohn erhalten. Die Streikkasse lindert den Druck, kein Einkommen zu haben, indem sie die Grundbedürfnisse der Arbeiter*innen sichert und es ihnen ermöglicht, im Streik zu bleiben. Die Streikkasse kann als eine Form der gegenseitigen Hilfe angesehen werden, die eng, bewusst und programmatisch in einen Kampf integriert ist – einen Kampf, der mit dem spezifischen Ziel begonnen wird, die Arbeitsbedingungen zu ändern. Der Streik selbst ist ein Werkzeug, das darauf abzielt, Zugeständnisse zu erzwingen, während die Streikkasse ein Mechanismus ist, der den Streik unterstützt. Ohne den Streik gäbe es keinen Grund für die Existenz der Streikkasse.