Especifismo

Especifismo ist ein organisatorisches und strategisches Konzept, das aus 50 Jahren Erfahrung der anarchistischen Bewegung in Südamerika entstanden ist. Ursprünglich von der Federación Anarquista Uruguaya (fAu) als praktische Lösung für die Desorganisation in der anarchistischen Bewegung infolge der Jahre der Militärdiktatur formuliert, hat sich Especifismo seither zu einem vollständigen Satz von Prinzipien entwickelt, die von anarchistischen Organisationen auf der ganzen Welt übernommen wurden.

Trotz einem unterschiedlichem Ansatz, wird dem Especifismo nachgesagt, dass er unabhängig zu ähnlichen Schlüssen kam, wie sie in der Organisationsplattform der allgemeinen anarchistischen Union (verfasst von ukrainischen und russischen Anarchist*innen) beschrieben wurden, dem (von italienischen Anarchist*innen ausgearbeiteten) Organisationsdualismus und die Prinzipien der chinesischen Wuzhengfu gongchan zhuyi tongzhi hui (Gesellschaft anarcho-kommunistischer Genossen).

Especifismo dreht sich um drei Hauptkonzepte:

  1. Die Notwendigkeit einer spezifisch anarchistischen Organisation, die auf einer Einheit von Ideen und Praxis aufgebaut ist.
  2. Die Verwendung der spezifisch anarchistischen Organisation zur Theoretisierung und Entwicklung strategischer, politischer und organisatorischer Arbeit.
  3. Aktive Beteiligung an und Aufbau von eigenständiger sozialer Bewegungen und Gewerkschaften, was als der Prozess der „sozialen Einfügung“ beschrieben wird.

 

Die spezifische anarchistische Organisation

Der Especifismo lehnt das „synthetische“ Konzept der anarchistischen Organisation ab, das versucht, die konkurrierenden und oppositionellen Strömungen des Anarchismus zusammenzubringen. Versuche, solche Organisationen zu bilden, führten historisch gesehen zu einer organisatorischen Lähmung und einer Abhängigkeit von individueller Spontaneität, anstatt der methodischen und disziplinierten kollektiven Aktivität, die für den Aufbau einer effektiven revolutionären Organisation notwendig ist. Especifist*innen befürworten stattdessen eine Organisation, die auf theoretischer, taktischer und strategischer Einheit aufgebaut ist.

 

Verwendung der spezifischen Organisation

Die spezifisch anarchistische Organisation, die auf einer Grundlage theoretischer Gemeinsamkeiten gegründet wurde, hat zunächst die Aufgabe, die Bedingungen der gegenwärtigen (ökonomischen, politischen, sozialen etc.) Verhältnisse zu analysieren. Auf der Grundlage dessen, was durch diese Analyse gelernt wurde, besteht ihre nächste Aufgabe darin, kurz-, mittel- und langfristige Ziele in Form eines Programms zu bestimmen. Schliesslich muss die Organisation ihre Analyse und ihre Ziele kombinieren, um ihre Strategie für die Aktion zu entwickeln. Angesichts der Dynamik der sozialen Bedingungen muss die Organisation ihre Analyse und Strategie ständig überprüfen und aktualisieren.

 

Soziale Einfügung

Especifismo erkennt an, dass die unterdrückten Klassen der revolutionärste teil der Gesellschaft sind, ein Interesse an einer neuen Gesellschaft haben und bereits (bewusst oder unbewusst, individuell oder kollektiv) gegen die Fesseln der gegenwärtigen sozialen Ordnung kämpfen. Im einfachsten Sinne besteht die soziale Einfügung darin, dass Mitglieder der spezifischen anarchistischen Organisation sich in die täglichen materiellen Kämpfe der unterdrückten Klassen einbringen – typischerweise durch soziale Bewegungen und soziale Organisationen wie von der Basis geführte Gewerkschaften, Mieter*innenvereinigungen, Student*innenorganisationen usw.

Das Ziel der spezifischen anarchistischen Organisation ist nicht, ihr Programm den sozialen Bewegungen aufzuzwingen, genausowenig sollen sie in kontrollierte Anhängsel der anarchistischen Bewegung verwandelt werden. Vielmehr besteht die Rolle der spezifischen anarchistischen Organisation darin, aufrichtig an den sozialen Bewegungen teilzunehmen, aktiv daran zu arbeiten, ihre implizit libertären Qualitäten (Selbstorganisation und Ausrichtung auf direkte Aktion) zu stärken, der sozialen Bewegung zu helfen, einen revolutionären Charakter zu entwickeln, der von anarchistischen Prinzipien geprägt ist, und die Bewegung in die Lage zu versetzen, sich sowohl gegen reformistische Vereinnahmung als auch gegen den Entrismus von Avantgardeparteien zu wehren.

Soziale Bewegungen sind der kämpferische Ausdruck der unterdrückten Klassen. Die Rolle der spezifisch anarchistischen Organisation besteht durch soziale Einfügung darin, die unterdrückten Klassen von „Klassen an sich“ in „Klassen für sich“ zu verwandeln. Letztendlich besteht der Zweck der sozialen Einbindung darin, die Fähigkeiten, das Vertrauen und die Macht der sozialen Bewegungen aufzubauen, um sie auf eine eventuelle revolutionäre Konfrontation mit Staat und Kapital vorzubereiten.

 

Weitere Informationen zur anarchistischen Strömung des Especifismo inklusive einer Leseliste mit Übersetzungen zentraler Texte finden sich auf anarchismus.de.