Libertär – Kein Ausdruck der Rechten
Der Begriff „libertär“ taucht immer wieder auf, wenn es um anarchistische Ideen geht. Dieses Wort ist eng mit der anarchistischen Tradition und freiheitlich sozialistischen Gedanken verbunden. Auch wir, die anarchistische Organisation Midada, verwenden den Begriff in unserem Slogan „libertär, sozialistisch, organisiert“ und beziehen unspositiv darauf. Doch seit fast 70 Jahren wird libertär auch von Marktextremist*innen und anderen reaktionären politischen Strömungen, wie etwa dem Umfeld des aktuellen argentinischen Präsidenten Javier Milei, als Selbstbezeichnung genutzt.
Mit diesem kurzen Text soll der Ursprung dieses umstrittenen Begriffs kurz beleuchtet werden, seine Verbindung zum sozialen Anarchismus aufgezeigt und ebenfalls erläutert werden, wie sich die Rechten den Begriff strategisch angeeignet haben.
Die erste überlieferte Verwendung des Wortes „Libertarian“ findet sich in einem Essay von William Belsham aus dem Jahr 1789. Darin nutzt er den Begriff als Gegenstück zum „Necessarian“. Laut Belsham ist ein „Libertärer“ jemand, der behauptet, dass der Geist über das Motiv entscheidet, während ein „Necessarier“ jemand ist, der glaubt, dass das Motiv den Geist bestimmt (Belsham 1789: 11). Hier wird ein philosophisches Konzept beschrieben, das libertäres Denken als die Fähigkeit des Menschen definiert, selbstbestimmt über Sachverhalte zu reflektieren. Dies besagt, dass libertäres Denken voraussetzt, über einen freien Willen zu verfügen und sich somit gegen Determinismen positioniert. Determinismus bedeutet, dass alle Ereignisse durch gewisse Bedingungen vorbestimmt sind, wie z.B. durch einen göttlichen Willen.
Nicht viel später fand der Begriff „libertär“ auch in politischen Kontexten Anwendung. Er wurde auf radikale Liberale angewandt, die sich für eine progressive Gesellschaftspolitik einsetzten, die zivilen Rechte verteidigten und sich positiv auf das bonapartistische Frankreich, die Französische Revolution und den Begriff „Liberty“ bezogen (The Author of Gebir 1802: 432).
Der Libertarismus ist seit seiner Entstehung eng mit fortschrittlichem Denken verbunden und hat sich im Kontext der sich verändernden politischen und wirtschaftlichen Lage, der Industrialisierung und der Entstehung des Proletariats weiterentwickelt. So verwendete der anarchistische Kommunist Joseph Déjacque das Wort „libertär“ erstmals in einem anarchistischen Zusammenhang, und zwar in einem Brief an Joseph Proudhon.
Proudhon war ein umstrittener Theoretiker, insbesondere wegen seines – auch damals bereits in fortschrittlichen Kreisen als unzeitgemäss empfundenen – Antifeminismus und seiner Frauenfeindlichkeit. Déjacque kritisierte Proudhons Sexismus und schrieb, Proudhon sei ein gemässigter Anarchist, liberal, aber nicht libertär, da er zwar den freien Austausch von Baumwolle und Kerzen befürworte, jedoch den Mann vor der Frau schützen wolle (vgl. Déjacque 1857: 5). Weiter erklärte Déjacque: „You cry against the great barons of capital, and you would rebuild a proud barony of man on vassal-woman“ (ebd.).
Dieser Brief hatte einen grossen Einfluss auf die junge anarchistische Bewegung und trug dazu bei, dass libertär zunehmend als Synonym für anarchistisch verwendet wurde. In Frankreich war die anarchistische Bewegung dieser Zeit zudem starker Repression ausgesetzt. Deshalb griffen Anarchist*innen oft auf alternative Begriffe wie libertär zurück, um freier agieren zu können und sich so gut wie möglich der staatlichen Verfolgung zu entziehen. Dies begünstigte die weitere Verbreitung des Begriffs innerhalb der anarchistischen Bewegung.
Was jedoch alle, sowohl bürgerliche Radikale als auch Anarchist*innen, unter dem Begriff „libertär“ vereinte, war die Vorstellung von persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit, die im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen stand.
Das 19. Jahrhundert war für die Arbeiter*innenbewegung geprägt von der Suche nach Ideen, um die soziale Frage zu lösen. Theoretische Debatten über geeignete Konzeptionen, um den Kapitalismus zu überwinden wurden vehement geführt. Während dem Haager Kongress der ersten Internationale im Jahre 1872 kam es zum Bruch zwischen der anti-autoritären Fraktion um Bakunin und der Fraktion um Karl Marx, der für die Erkämpfung der „Diktatur des Proletariats“ warb (vgl. Hahnel 2005: 138).
Der libertäre Sozialismus wurde zum Gegenpol des autoritären Sozialismus um Marx und führte zu erbitterten Kämpfen um die theoretische Vorherrschaft innerhalb des linken Diskurses (vgl. ebd.). Der berühmteste aller Umsetzungsversuche eines praktischen libertären Sozialismus erfolgte durch die spanische Gewerkschaft Confederación Nacional de Trabajo (CNT). Die CNT verabschiedete am Kongress von Zaragoza ihr revolutionäres Programm des libertären Kommunismus, wobei (vereinfacht gesagt) das kommunistische Moment im Programm die Vergesellschaftung der Produktionsmittel beinhaltete und das libertäre Element die höchstmögliche kollektive Selbstverwaltung der Produktion und der Gesellschaft verkörperte (vgl. Gruppo Comunista anarchico di Firenze 1979). Der Libertarismus als Begriff war zu dieser Zeit untrennbar mit freiheitlichen und vor allem sozialistischen und progressiven Ideen verknüpft.
Seit einiger Zeit wird der Begriff jedoch auch im Zusammenhang mit Markextremist*innen verwendet. Die politische Rechte versucht sich den Begriff strategisch anzueignen. Dies geschah vor dem Hintergrund des Aufkommens des Neoliberalismus und der damit verbundenen Ablehnung einer „laissez-faire“-Wirtschaftspolitik, wodurch ein Graben zwischen den Anhänger*innen der unsichtbaren Hand und den liberalen Befürwortern einer interventionistischen Wirtschaftspolitik entstand (Biebricher 2015: 34). Ein Artikel in der Zeitung The Freeman kann als Ausgangspunkt dieses Aneignungsprozesses betrachtet werden, in dem Russel Dean (1955 o.S.) Folgendes schrieb:
Many of us call ourselves „liberals“. And it is true that the word „liberal“ once described persons who respected the individual and feared the use of mass compulsions. But the leftists have now corrupted that once-proud term to identify themselves and their program of more government ownership of property and more controls over persons. As a result, those of us who believe in freedom must explain that when we call ourselves liberals, we mean liberals in the uncorrupted classical sense. At best, this is awkward and subject to misunderstanding. Here is a suggestion: Let those of us who love liberty trade-mark and reserve for our own use the good and honorable word „libertarian.“
Weiter beschrieb Murray Rothbard in seinem Buch The Betrayal of the American Right, dass ein erfreulicher Aspekt des Aufstiegs «ihrer Seite» darin bestand, dass ein entscheidendes Wort des Feindes erobert werden konnte – ein Wort, das lange Zeit einfach als höfliche Bezeichnung für Linke und Anarchist*innen galt (vgl. 2007: 83). Heute scheint das Wort, vor allem im englischsprachigen Raum, für linke Bewegungen verbrannt zu sein. Auch im deutschsprachigen Raum wird es immer häufiger ausschliesslich mit reaktionären Bewegungen in Verbindung gebracht.
Die Rechten haben sich diesen Begriff aus Kalkül angeeignet. Für uns ist es jedoch klar, dass wir uns die Merkmale unserer politischen Tradition nicht entreissen lassen dürfen. Wir als klassenkämpferische Anarchist*innen sind libertär und somit freiheitlich und sozialistisch. Individuelle sowie kollektive Freiheit müssen immer zusammen gedacht werden. Aus unserer Perspektive darf weder ein Individuum diskriminiert werden, noch sollen herrschende Klassen uns unterwerfen. Kein Staat, mit seiner konzentrierten politischen Herrschaft und auch keine dominanten ökonomischen Klassen – die die kapitalistische Produktionsweise immer hervorbringt – darf uns ausbeuten. Ebensowenig sollen Menschen durch das Patriarchat oder den Rassismus unterdrückt und überausgebeutet werden. Libertär ist nach unserem Verständnis nur, wer sich all dieser Herrschaft entgegenstellt und für eine selbstverwaltete Welt kämpft, in der kein Mensch über dem anderen steht.
Quellenverzeichnis:
Biebricher, Thomas (2015). Neoliberalismus zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
Déjacque, Joseph (1857). On the Human Being, Male and Female. URL: https://theanarchistlibrary.org/library/joseph-dejacque-on-the-human-being-male-and-female.lt.pdf [Zugriffsdatum: 14. November 2023].
Hahnel, Robin (2005) Economic Justice and Democracy: From Competition to Cooperation. New York: Routledge.
Kuhn, Axel (1999). Die Französische Revolution. Ditzingen: Reclam.
Rothbard, Murray (2007). The Betrayal of the American Right. URL: https://cdn.mises.org/The%20Betrayal%20of%20the%20American%20Right_2.pdf [Zugriffsdatum: 14. November 2023].
Russel Dean (1955) Who is a Libertarian. In: The Freeman Foundation for Economic Education. URL: https://fee.org/articles/who-is-a-libertarian/ [Zugriffsdatum: 14. November 2023].
The Author Of Gebir (1802). British Catalogue in British Critic: A quarterly theological Revue. Volume 20. URL: https://web.archive.org/web/20140101113236/http://books.google.com/books?id=vPxOAAAAYAAJ&pg=PA432&dq=%22mark+him+for+a+furious+libertarian%22&hl=en&ei=xnRqTrXVKLGqsAKX_oniBA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=2&ved=0CC4Q6AEwAQ#v=onepage&q=%22mark%20him%20for%20a%20furious%20libertarian%22&f=false [Zugriffsdatum: 14. November 2023].
William Belsham (1789). Essays, Philosophical, Historical, and Literary. Band 1. URL: https://books.google.ch/books?id=Z6Y0AAAAMAAJ&q=William+Belsham+libertarian&pg=PA11&redir_esc=y#v=snippet&q=William%20Belsham%20libertarian&f=false [Zugriffsdatum: 10. November 2023].