Was ist organisatorischer Dualismus?

18. September 2024

In den letzten zehn Jahren sind weltweit eine Reihe neuer anarchistischer politischer Organisationen entstanden – von Südamerika bis Australien und darüber hinaus. Sie schmieden internationale Solidaritätsbeziehungen und signalisieren den zunehmenden Einfluss der Tradition des „organisatorischen Dualismus“. Aber was ist organisatorischer Dualismus und warum wächst diese politische Tendenz international?

Die Wurzeln der Theorie und Praxis des organisatorischen Dualismus lassen sich bis zu den Ursprüngen des Anarchismus im späten 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als Michael Bakunin und andere die erste anarchistische politische Organisation, die Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie (1868), gründeten. Bakunin betrachtete „die Allianz“ als eine notwendige Ergänzung zur kürzlich gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), besser bekannt als die Erste Internationale (1864-1876).

Aber er betonte auch den Unterschied zwischen den beiden Organisationen und argumentierte, dass:

„…die Internationale und die Allianz, obwohl sie letztendlich dieselben Ziele verfolgen, unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die Internationale bemüht sich, die arbeitenden Massen, die Millionen von Arbeitern, unabhängig von Nationalität und nationalen Grenzen oder religiösen und politischen Überzeugungen, zu einer kompakten Einheit zu vereinen; die Allianz hingegen versucht, diesen Massen eine wirklich revolutionäre Richtung zu geben.“

-L’Égalité, August 1869, Bakunin on Anarchy.

In seiner Beschreibung der Beziehung zwischen der Allianz und der IAA skizzierte Bakunin eine der Kernideen des organisatorischen Dualismus – die Notwendigkeit von getrennten, aber sich gegenseitig verstärkenden Organisationsebenen: eine politische (die Allianz) und eine soziale (die IAA), die als symbiotische Kräfte im Kampf für die soziale Revolution und die Schaffung einer neuen Gesellschaft wirken.

Wie Bakunin im Fall der IAA deutlich macht, zielt die soziale Ebene – einschliesslich Gewerkschaften, Student*innen- und gemeinschafts-basierter Organisationen – darauf ab, so viele Menschen der unterdrückten Klassen wie möglich zu vereinen. Nicht auf der Basis einer gemeinsamen Ideologie, sondern auf der Grundlage als ausgebeutete und unterdrückte Menschen.

Für Vertreter*innen des organisatorischen Dualismus werden soziale Bewegungen als die Hauptmittel verstanden, nicht nur zur Verbesserung der täglichen Bedingungen der „Menschen von unten“, sondern auch zur radikalen Transformation der Gesellschaft. Durch lang andauernden Kampf sammeln soziale Bewegungen die notwendige Stärke und Erfahrung, um sowohl Reformen von den herrschenden Klassen zu erzwingen als auch letztendlich eine soziale Revolution durchzuführen, um eine libertäre und sozialistische Gesellschaft einzuleiten.

Die politische Ebene (spezifisch anarchistische Organisation) hingegen bringt eine „aktive Minderheit“ von Anarchist*innen zusammen, basierend auf einer gemeinsamen Ideologie, Prinzipien und einem Programm, das von den Mitgliedern einen höheren Grad an theoretischer und praktischer Einheit verlangt. Wie Bakunin bemerkte, streben anarchistische politische Organisationen danach, den sozialen Bewegungen eine „revolutionäre Richtung“ zu geben, anstatt Kämpfe zu vereinnahmen, um daraus einen eigenen Nutzen zu ziehen.

Spezifisch anarchistische Organisationen haben folgende Aufgaben im Prozess der sozialen Transformation:

  • Erstellen von anarchistischer Propaganda, Theorie und Strategie, die auf den aktuellen Moment abgestimmt sind.
  • Beeinflussung von Massenbewegungen durch aktive Teilnahme und Förderung anarchistischer Werte, Prinzipien und Praktiken im Verlauf des Kampfes.
  • Stärkung ihrer Mitglieder durch politische Bildung und Schulung.
  • Bildung von Allianzen auf sowohl politischer als auch sozialer Ebene mit anderen Organisationen.

Seit der Allianz wurden Organisationen in der Tradition des organisatorischen Dualismus auf fast jedem Kontinent der Erde gegründet, mit bemerkenswerten Beispielen wie der Partido Liberal Mexicano und seiner Rolle in der Mexikanischen Revolution (1910) sowie der Erfahrung der Federación Anarquista Ibérica während der Spanischen Revolution (1936).

Heute wendet sich eine neue Generation von Anarchist*innen dem organisatorischen Dualismus zu und lässt sich von der Organisationsplattform der allgemeinen anarchistischen Union, auch bekannt als „die Plattform“, sowie von der Theorie und Praxis des Especifismo inspirieren, die von der Federación Anarquista Uruguaya in Südamerika entwickelt wurde.

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