Ist Anarchismus gegen Macht?

24. September 2024

Allzu oft stellen sich Anarchist*innen als solche dar, die Macht zerstören wollen. Diese Vorstellung repräsentiert ein verwirrtes und verzerrtes Verständnis des Konzepts. Lasst uns mit einem Grundsatz beginnen: Macht existiert in allen sozialen Beziehungen. Sie ist ein Element, das verändert und umgestaltet, aber nicht entfernt werden kann. Daher lautet die Frage nicht, ob wir Macht loswerden können, sondern welche Art von sozialer Organisation die kollektive und demokratische Ausübung von Macht ermöglicht und erleichtert. Aber lassen wir diese Frage für den Moment beiseite und erkunden weiter, was Macht tatsächlich ist.

Drei Formen

Unter Berufung auf den spanischen anarchistischen Theoretiker Tomás Ibáñez hebt Felipe Corrêa aus Brasilien, ebenfalls anarchistischer Theoretiker, drei Formen von Macht hervor:

  • Macht als Potenzial
  • Macht als Asymmetrie in sozialen Beziehungen
  • Macht als Strukturen und Mechanismen der Regulierung und Kontrolle

Macht als Potenzial

Dies bezieht sich auf die Fähigkeit oder das Potenzial einer Gruppe oder Einzelperson, als soziale Kraft in einer bestimmten sozialen Beziehung zu agieren. Zum Beispiel: Eine einzelne Mietpartei hat nur begrenzte Möglichkeiten, die Verwaltung dazu zu bringen, defekte Geräte in einer Wohnung zu reparieren. Mietparteien, die unter derselben Verwaltung dieselben Probleme haben, können sich aber zu einer Mieter*innengewerkschaft zusammenschliessen. Nun haben sie ein grösseres Potenzial, als soziale Kraft gemeinsam Probleme anzugehen.

Macht als Asymmetrie in sozialen Beziehungen

Diese Art von Macht bezieht sich auf die relativ ungleichen Fähigkeiten der verschiedenen sozialen Kräfte in einer bestimmten sozialen Beziehung. Zum Beispiel: Eine kleine feministische Gruppe veranstaltet eine Sitzblockade vor dem Bundeshaus als Reaktion auf kürzlich verabschiedete Gesetze, die den Zugang zu Abtreibungen einschränken. Innerhalb einer Stunde verhaftet die Polizei alle Mitglieder der Gruppe, und der Zugang zu Abtreibungen bleibt gesetzlich eingeschränkt. In diesem Szenario hat eine soziale Kraft (der Staat durch die Polizei) mehr Macht als die andere.

Macht als Strukturen und Mechanismen der Regulierung und Kontrolle

Dies bezieht sich auf die verschiedenen Strukturen/Institutionen (Kapitalismus, der Staat, Schulen, Familie usw.), die bestehende soziale Beziehungen formen. Weiter beinhaltet diese Macht die Vielzahl von Instrumenten (Gesetze, Polizei, Gefängnisse, Massenmedien, Religion usw.), die verwendet werden, um bestehende soziale Beziehungen zu beeinflussen und aufrecht zu erhalten.

Macht ist neutral

Macht ist also nicht notwendigerweise gut oder schlecht, wenn sie isoliert betrachtet wird. Wir können Macht nur im Kontext dessen beurteilen, wie und zu welchem Zweck sie ausgeübt wird. So wie wir die Ausübung kollektiver demokratischer Macht durch eine Mieter*innengewerkschaft unterstützen, lehnen wir gleichermassen die asymmetrische dominierende Macht der Immobilienverwaltung ab. Auf diese Weise wird unsere Analyse von Macht durch die ideologische Brille geprägt, durch die wir sie betrachten.

Gegen Herrschaft*

Tomás Ibáñez behauptet, dass Anarchist*innen nicht generell gegen Macht sind, sondern sich gegen eine spezifische Art von Macht richten: die Herrschaft. Herrschaftsverhältnisse stehen im Mittelpunkt der gegenwärtigen sozialen Ordnung; diese Verhältnisse sind in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen verankert, in denen die herrschenden Klassen strukturell in der Lage sind, Macht zu erlangen und auszuüben. Ein anschauliches Beispiel ist die kapitalistische Klasse, die die Produktionsmittel und Ressourcen der Gesellschaft besitzt und die Arbeiter*innenklasse unterwirft. Diese ist gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Die Intensität dieser Herrschaft schwankt ständig in Abhängigkeit von der relativen Macht der konkurrierenden Klassen.

*Original: Domination

Gegenmacht

Wenn Anarchist*innen Macht in ihrer beherrschenden Form ablehnen, welche Art von Macht unterstützen sie dann? Revolutionäre Anarchist*innen, insbesondere in Lateinamerika, widmen sich dem Aufbau dessen, was sie als „Poder Popular“ (Volks-/Gegenmacht) bezeichnen. Ein umfassenderer Beitrag zu diesem Thema folgt. Kurz gesagt: Volks- oder Gegenmacht betont die transformative Kraft von Massenbewegungen – insbesondere solchen, die eine Zusammenarbeit mit den herrschenden Klassen ablehnen, demokratisch selbstverwaltet sind und direkte Aktionen nutzen. Diese Massenbewegungen können nicht nur sofortige, kurzfristige Forderungen durchsetzen, sondern, wenn sie zielgerichtet aufgebaut werden, auch als Keimzelle für eine klassenlose, staatenlose Gesellschaft dienen.ratisch Selbstverwaltet sind und direkte Aktionen nutzen. Diese Massenbewegungen können nicht nur sofortige, kurzfristige Forderungen durchsetzen, sondern, wenn sie richtig aufgebaut werden, auch als Geburtshelfer*in für eine klassenlose, staatenlose Gesellschaft dienen.

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