Gegenmacht / Poder Popular

1. Oktober 2024


Gegenmacht oder Poder Popular ist ein Konzept, das in den 1960er und 70er Jahren von der lateinamerikanischen Linken entwickelt wurde. Es ist ein Begriff, der auch heute noch weit verbreitet ist. Wie aber der brasilianische anarchistische Theoretiker Felipe Corrêa anmerkt, ist seine Definition umstritten und Gegenstand fortlaufender Debatten. Was wir hier vorstellen, ist eine Darstellung der anarchistischen Auffassung von Gegenmacht. Sie beruht auf der theoretischen und praktischen Arbeit mehrerer Gruppen zu diesem Thema. Diese Zusammenfassung basiert teilweise auf Corrêas Artikel „Creating a strong People: Discussions about Popular Power“.

Allgemeine Definition

Gegenmacht wird allgemein als eine Form politischer Macht verstanden, die durch die unabhängige Organisierung und Aktivität der unterdrückten Klassen entsteht. Gegenmacht wird als flexibel, kollektiv, direktdemokratisch und kämpferisch betrachtet. Dieses Konzept steht oft im Gegensatz zur bürgerlichen politischen Macht. Diese delegiert ihre Macht an gewählte Vertreter*innen, die innerhalb der Bürokratie des bürgerlichen Staates im Namen einer politisch demobilisierten Bevölkerung arbeiten, welche nur bei Wahlen aktiv wird.

Konkurrierende Definitionen

Der Begriff der Gegenmacht ist vielleicht am ehesten für seine Verbindung mit der sozialistischen Volksfrontregierung von Salvador Allende in Chile bekannt. Aber die Form der Gegenmacht, die mit Allende assoziiert wird, entstand aus einem spezifischen historischen Moment, in dem die Volksfrontregierung sich in der Arbeiter*innenklasse verankern wollte. Dies, indem sie einen bereits laufenden Prozess der Betriebsbesetzungen zuliess oder förderte, der unabhängig von der Regierung durch Arbeiter*innen initiiert worden war. In der Definition der Gegenmacht, die sich aus diesem Kontext ableitet, spielt der Staat eine unterstützende Rolle und schafft eine symbiotische Beziehung zur unabhängigen Aktivität der Arbeiter*innenklasse. Dies ist jedoch nicht der anarchistische Ansatz für das Konzept.

Unser Ansatz

Die anarchistische Auffassung von Gegenmacht behält die zuvor beschriebene allgemeine Definition bei: Sie ist eine Form politischer Macht, die durch die unabhängige Aktivität der unterdrückten Klassen entsteht. Anarchist*innen sehen die Gegenmacht als den tatsächliche Grad an sozialer Kraft, den die unterdrückten Klassen bewusst und gezielt aufbauen und durch Kampfmethoden einsetzen, welche einen Weg zur sozialen Revolution und eine libertär-sozialistische Perspektive eröffnen. Lasst uns dies jedoch etwas herunterbrechen.

Kernkomponenten

Was meinen wir mit „soziale Kraft“? 

Soziale Kraft ist einfach ausgedrückt die Fähigkeit, in der Welt zu handeln, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Aber allein die soziale Kraft zu besitzen, bedeutet nicht automatisch, dass man sie auch nutzt oder einsetzt. Soziale Kraft sollte nur als Fähigkeit oder Potenzial für Handlung verstanden werden.

Was meinen wir mit „Macht“? 

Macht hingegen impliziert, dass die Fähigkeit zu handeln (soziale Kraft) aktiv genutzt wird. Wie der anarchistische Theoretiker Fabio Lopez schreibt:

„Macht ist das Durchsetzen des Willens eines Akteurs, der durch soziale Kraft mobilisiert wird, um die Kraft derjenigen zu überwinden, die sich ihm widersetzen.“

Weitere Klärung

Obwohl die unterdrückten Klassen immer über soziale Kraft (die Fähigkeit zu handeln) verfügen, setzen sie diese soziale Kraft nur selten in einer gezielten, bewussten und konzertierten Weise ein. Bakunin macht dies deutlich:

„Es ist wahr, dass [im Volk] eine grosse elementare Kraft vorhanden ist, eine Kraft, die zweifellos über die der Regierung und die herrschenden Klassen hinausgeht, aber ohne Organisation ist die elementare Kraft keine echte Kraft. Daher besteht das Problem nicht so sehr darin, zu wissen, ob [das Volk] sich erheben kann, sondern darin, zu sehen, ob es fähig ist, eine Organisation aufzubauen, die ihm die Mittel gibt, ein Ziel zu erreichen – nicht durch einen zufälligen Sieg, sondern durch einen langen und endgültigen Sieg.“

Wo und wie zeigt sich Gegenmacht? 

Wie bereits erwähnt, entsteht Gegenmacht nicht zufällig. Sie ist eine bewusste, selbstbestimmte Aktivität der unterdrückten Klassen. Die Frage, wo und wie sich Gegenmacht offenbart, lässt sich beantworten, indem wir eine andere Frage stellen: Welche Methoden der unabhängigen Aktivität erhöhen sowohl die gesamte soziale Kraft der unterdrückten Klassen als auch ihr Potenzial, zu einer sozialrevolutionären Kraft zu werden? Unsere Antwort: jene sozialen Bewegungen und Organisationen, deren Methoden klassenunabhängig, demokratisch, selbstverwaltet sind und direkte Aktionen nutzen, um die kurzfristigen materiellen Interessen ihrer Aktiven zu erreichen. Es gibt jedoch keine Garantie, dass soziale Bewegungen diese Methoden automatisch nutzen werden.

Anarchistische Strategie und Gegenmacht 

Anarchist*innen erkennen an, dass soziale Bewegungen das Potenzial haben, zu Organen der Gegenmacht zu werden. Dieses Potenzial muss aktiv gefördert und erkämpft werden. Daher ist es notwendig, dass Anarchist*innen zwei Dinge tun, um Gegenmacht aufzubauen:

1. Soziale Bewegungen aufbauen, wenn keine existieren

2. Sich an bestehenden soziale Bewegungen beteiligen, um eine Vision, ein Programm und eine Strategie zu fördern, die Demokratie, Klassenunabhängigkeit, Selbstverwaltung, direkte Aktion usw. betonen – und so das Potenzial dieser Bewegungen erhöhen, zu echten Organen der Gegenmacht zu werden. 

Letztendlich sind wir Anarchist*innen der Ansicht, dass diese Organe der Gegenmacht eine soziale Revolution initiieren und die Grundlage für eine neue, libertäre sozialistische Gesellschaft schaffen können.

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