Was ist Reformismus?
Reformismus ist die Vorstellung, dass die sozialen Strukturen, die unsere Gesellschaft prägen, im Laufe der Zeit langsam „zum Besseren“ verändert werden können – in manchen Fällen sogar so weit, dass sie schliesslich vollständig verändert werden. Typischerweise wird angenommen, dass dieser Prozess über bestehende gesetzgebende und gerichtliche Institutionen stattfindet. Reformismus ist weniger eine ideologische Position als vielmehr eine spezifische Strategie – wenngleich Reformist*innen in einigen politischen Traditionen häufiger anzutreffen sind als in anderen. Das heisst, Reformist*innen gibt es in allen politischen Richtungen, von Faschist*innen bis hin zu Sozialist*innen.
Was sind Reformen?
Reformen sind die Veränderungen am momentanen System, wie zuvor beschrieben wurde. Typischerweise zielen die Arten von Reformen, die revolutionäre Sozialist*innen erreichen möchten, auf Verbesserungen der Lebensbedingungen der unterdrückten Klassen ab. In der Vergangenheit umfassten solche Reformen das Verbot von Kinderarbeit, die Einführung des Achtstundentages, Rechte für Gewerkschaften, Rechte für Migrant*innen, den Schutz von LGBTQ-Personen und vieles mehr.
Gegen den Reformismus
Der Reformismus basiert auf der Annahme, dass geringfügige Verbesserungen innerhalb einer Gesellschaft im Laufe der Zeit und in grosser Anzahl die Funktionsweise dieser Gesellschaft grundlegend verändern können. Wir bestreiten nicht, dass Reformen positive sowie negative Auswirkungen haben können. Doch Revolutionär*innen erkennen, dass Reformen, die darauf abzielen, die Strukturen unserer Gesellschaft dramatisch zu verändern, immer von denen bekämpft werden, die an der Spitze der Klassenherrschaft stehen. Zum Beispiel werden Kapitalist*innen nicht freiwillig zulassen, dass der Kapitalismus allmählich abgeschafft wird – sie werden alle Mittel einsetzen, einschliesslich Gewalt, um dies zu verhindern. So denken wir, dass nur ein revolutionärer Konflikt, der zur Niederlage der herrschenden Klassen und zur Zerstörung der Herrschaftsstrukturen führt, unsere Gesellschaft grundlegend umgestalten kann.
Gegen den Purismus
Wenn wir also gegen Reformismus sind, bedeutet das dann, dass wir auch Reformen selbst ablehnen sollten? Nein! Reformen können nicht nur unmittelbare materielle Vorteile für die unterdrückten Klassen bringen, sondern ihr Erreichen kann auch eine wichtige strategische Rolle im längeren Prozess des Machtaufbaus für eine zukünftige revolutionäre Umwälzung spielen. Doch ob Reformen tatsächlich diese Rolle einnehmen, hängt weitgehend davon ab, wie die Kampagnen zu ihrer Durchsetzung geführt werden.
Zum Aufbau und zur Stärkung von Volksmacht
Reformen können in vielfältigen Formen auftreten und auf viele verschiedene Arten erreicht werden; einige werden durch politische Zugeständnisse erzielt, andere über Wahlen. Wir sind jedoch der Meinung, dass die wichtigsten Reformen durch Massenbewegungen gewonnen werden. Diese unabhängig organisierten Bewegungen, die durch Streiks, Strassenproteste, Boykotte und andere Mittel koordinierte und direkte Aktionen androhen oder durchführen, haben sich historisch als äusserst erfolgreich erwiesen, um den Staat zu wesentlichen Zugeständnissen zu zwingen. Sogar der Gewinn kleinerer Reformen kann das Vertrauen, die Kampfbereitschaft und die Ambitionen einer Massenbewegung stärken und weiterentwickeln.
Über Reformen hinaus – Hin zu Volksmacht
Doch erfolgreiche Massenbewegungen neigen auch dazu, sich nach dem Erreichen ihrer Ziele aufzulösen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, betonen wir Anarchist*innen, dass wir in diesen Bewegungen aktiv sein und sie auf eine prinzipientreue Weise dazu ermutigen müssen, ihre Errungenschaften zu festigen und auszubauen. Wenn es Massenbewegungen gelingt, den häufigen Fallen der Vereinnahmung durch Parteien und der darauf folgenden Auflösung zu entgehen, können sie sich mittelfristig zu einem echten Machtpol für die unterdrückten Klassen weiterentwickeln. In dieser Phase erkennen wir an, dass die Bewegung eine Form von Volksmacht/Gegenmacht geschaffen hat.
Von Volksmacht zur sozialen Revolution
Schliesslich, wenn die durch Massenbewegungen geschaffenen Organe der Volksmacht/Gegenmacht erfolgreich genug sind, um Zugeständnisse zu erlangen, werden sie Konflikte anziehen. Wenn der Staat und das Kapital beginnen, sich auch nur im Geringsten existenziell bedroht zu fühlen, werden sie zurückschlagen. Diese Situation der eskalierenden Klassenkämpfe kann zur Niederlage der unterdrückten Klassen führen. Wenn jedoch die Organisationen der sozialen Bewegungen und die Macht, die sie aufgebaut haben, stark genug sind, können sie erfolgreich bleiben. Letztlich, obwohl wir die Kurzsichtigkeit des Reformismus ablehnen müssen, können wir nicht die unmittelbare und langfristige Rolle übersehen, die Reformen – gesichert durch den direkten Kampf der unterdrückten Klassen – auf dem Weg zur sozialen Revolution spielen können.