Emotionale Erschöpfung ist in der heutigen Gesellschaft, in der wir immer mehr und immer schneller leisten sollen, ein weit verbreitetes Phänomen. Auch die politische Arbeit bleibt davon nicht verschont. Verschiedene Faktoren können zu einem Zustand emotionaler Erschöpfung führen. Das Ansammeln von Verantwortungen und Aufgaben ist ein typisches Beispiel dafür. Besonders problematisch sind jedoch politische Orientierungslosigkeit, Mangel an theoretischer Klarheit und ein Aktivismus, der von Event zu Event und von einem Thema zum nächsten springt, ohne eine Strategie zur Ansammlung sozialer Kraft zu verfolgen. Diese Faktoren verstärken die Belastung erheblich.
Es kommt häufig vor, dass Gruppen und einzelne Aktive bei einer Mobilisierung oder Kampagne ihre regulären Aktivitäten beiseitelegen und viel Zeit und Energie in eine einzige Sache investieren. Dieses Engagement wird oft von grossen, manchmal unrealistischen Hoffnungen und Erwartungen begleitet. Sobald der Höhepunkt der Mobilisierung überschritten ist und das rasante Tempo (und die damit verbundene Euphorie) abflaut, kann die bereits angesammelte emotionale Erschöpfung gefährlich werden und zu einem Burnout führen.
Emotionale Erschöpfung und Burnout sind nicht nur für die Einzelpersonen gefährlich, sondern auch für soziale Organisationen oder die spezifisch anarchistische Organisation (SAO). Wenn mehrere Aktive von einem Burnout betroffen sind, besteht die Gefahr, dass das Kollektiv oder die SAO zusammenbricht. Dies kann passieren, weil bestimmte wesentliche Aufgaben nicht mehr erfüllt werden können oder weil diese Aufgaben auf eine kleinere Anzahl von Aktiven zurückfallen, die dann ebenfalls Gefahr laufen, sich zu viele Aufgaben aufzubürden.
Es ist entscheidend, die Ursachen emotionaler Erschöpfung zu verstehen und ihre Symptome zu erkennen, um das Risiko eines Burnouts zu verringern. Zu den Ursachen emotionaler Erschöpfung zählen natürlich ebenfalls das Privat- und Berufsleben der einzelnen Personen. Aber besonders die Art und Weise, wie politische Arbeit betrieben wird, kann einen negativen Einfluss haben und eine Ursache für emotionale Erschöpfung und Burnout sein. Dem möchten wir uns in diesem Text widmen.
Im Folgenden beschreiben wir die unserer Ansicht nach häufigsten Ursachen emotionaler Erschöpfung und mit welchen Strategien wir diese bekämpfen:
Politische Arbeit, die isoliert von Gleichgesinnten oder in einem schlecht strukturierten Kollektiv geleistet wird, mit unklaren Rollen, informellen Hierarchien usw.:
Wir haben uns eine der schwierigsten Aufgaben gestellt, und zwar die gesamte soziale und politische Realität zu verändern; Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Wohlstand und Würde für alle zu erlangen; den Kapitalismus, das Patriarchat, den Rassismus und alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung zu zerstören. Was bedeutet, eine sozialistische und selbstverwaltete Gesellschaft aufzubauen, in der Reichtum und Macht gerecht auf alle verteilt werden; all dies auf demokratische (freiheitliche) Weise und mit Übereinstimmung von Zielen und Mitteln. Somit ohne Avantgarde-Partei, ohne Staatsstreich, ohne Terror.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist kollektives Handeln innerhalb einer Organisation notwendig, deren Abläufe und Vereinbarungen klar definiert sind. Eine Struktur, die interne Demokratie und föderalistisches Handeln gewährleistet, dabei jedoch jederzeit die notwendige Flexibilität und Beweglichkeit behält, welche die alltägliche Praxis benötigt. Dies stets im Rahmen einer klaren Strategie und eines Programms, was ohne taktische und theoretische Einheit nicht möglich ist.
Fehlende Strategie des Aufbaus sozialer Stärke und Aktivismus, der von einer Mobilisierung zur nächsten springt:
Ständig Mobilisierungen hinterherzujagen, ist ermüdend und auf mittlere bis lange Sicht wenig befriedigend. Wir verfolgen den organisationsdualistischen Ansatz, d.h., die alltägliche soziale Praxis unserer Aktiven erfolgt innerhalb sozialer Organisationen (Gewerkschaften oder soziale Bewegungen). Diese ermöglichen durch individuelle oder kollektive Verteidigung, in alltäglichen Konflikten, bei längerfristigen Kämpfen oder in kultureller/ideologischer Arbeit und Bewusstseinsbildung den Aufbau von Stärke, Kampfbereitschaft und Organisationsfähigkeit.
Dies ermöglicht es, nicht einfach Mobilisierungen hinterherzulaufen, sondern selbst welche ins Leben zu rufen. Es erlaubt ausserdem, sich mit anderen Kämpfen zusammenzuschliessen und dabei mehr als nur Sichtbarkeit für eine Bewegung zu bringen – sondern den Aufbau echter sozialer Stärke. Schliesslich ermöglicht dieser Ansatz das Kämpfen auf Basis eigener Ziele, die wiederum helfen, die Orientierung in den Kämpfen zu behalten und sich bei Teilkämpfen mit anderen Bewegungen zu verbünden, wenn eine Vereinbarkeit in den Zielen dies zulässt. Somit kann auch erkannt werden, wer überhaupt als Verbündete infrage kommt.
Unrealistische Erwartungen und Ernüchterung:
Wir sind Revolutionär*innen und streben die Transformation der herrschenden Verhältnissen an. Dennoch sind wir uns den Anforderungen bewusst, die dieser gesellschaftliche Wandel stellt und haben eine klare Vorstellung der Prozesse, die zur Transformation führen. Das bedeutet nicht, dass wir auf den „richtigen Moment“ warten oder unsere Langzeitforderungen einschränken. Doch in einem gegebenen sozialen Konflikt wissen wir, welche Brüche in der bestehenden Struktur wir erreichen müssen und welche Ergebnisse (sowie Zwischenziele) erreichbar sind. Entsprechend richten wir unsere Aktionen aus, um sicherzustellen, dass jede Situation – sei es ein „Sieg“ oder eine „Niederlage“ – die Konfliktbereitschaft fördert und Kräfte aufbaut. Wir wissen, dass der Wandel von unserer eigenen Stärke abhängt. Wir wissen, wohin wir wollen, kennen die Realität, in der wir agieren und wissen, was notwendig ist, um Fortschritte zu erzielen. Daher verstehen wir, was erreichbar, also realistisch ist und was dafür getan werden muss. Wir geben uns die Mittel, um – entsprechend unseren Möglichkeiten – Phasen des „Aufschwungs“ zu nutzen und uns an Zeiten des „Rückzugs“ anzupassen und diese zu überstehen. All dies erfordert ein klares Programm und eine langfristige Strategie.
Aber auch Organisationen wie die unsere sind nicht vor emotionaler Erschöpfung und Burnout gefeit.
Die Anhäufung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, das Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung der Struktur und den tatsächlichen Ressourcen der Aktiven, sowie der Mangel an Erfahrung sind alles Faktoren, die Überlastung, theoretische Unklarheit oder politische Orientierungslosigkeit verursachen können, was wiederum emotionale Erschöpfung und Burnout begünstigt.
Es ist wichtig, ein gewisses „natürliches“ Tempo bei der Entwicklung der Organisationsstrukturen und der Erfahrungen der Aktiven zu berücksichtigen. Die Struktur der Organisation muss sich im Einklang mit den sich entwickelnden Fähigkeiten weiterentwickeln und nicht einem idealisierten Schema folgen. Ebendiese Agilität ist ein entscheidendes Element für die Gesundheit einer Organisation wie der unseren.
Die ideologische und theoretische Schulung unserer Mitglieder ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil. Sie gewährleistet eine demokratische Beteiligung und eine gerechte Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Ausserdem hilft sie, ideologische und theoretische Grundsätze festzulegen. Dies hilft Ressourcen freizusetzen, da dadurch ständige Grundsatzdiskussionen vermieden werden.
Dennoch müssen wir stets im Auge behalten, dass die theoretische Ausbildung, so hochwertig sie auch von der Organisation bereitgestellt wird, ihre Wirkung nur durch die Verbindung mit praktischen Erfahrungen in sozialen Organisationen jedes einzelnen Mitglieds entfalten kann. Das bedeutet, dass die Erwartungen an den theoretischen Wissensaufbau das Tempo der praktischen Erfahrungsbildung berücksichtigen muss.
Die kollektive Verantwortungsübernahme und das gegenseitige Achtgeben auf die Gesundheit aller Mitglieder der SAO sind ebenfalls wichtige Elemente. So hat die SAO die Verantwortung zu übernehmen, dass einzelne Mitglieder nicht ein unrealistisches oder schädliches Mass an Aufgaben übernehmen. Wenn die SAO beobachtet, dass ihre Mitglieder trotz eines sehr hohen Stresslevels sich keine Ruhe gönnen, weiterhin in sozialen Organisationen tätig sind und dadurch schlechte Arbeit leisten oder einen schlechten Umgang mit Genoss*innen an den Tag legen, muss sie intervenieren. Zum Schutz der Individuen und der SAO soll sie ihre Mitglieder bei Erschöpfungszuständen zu Pausen verpflichten dürfen. Dieser Zwang ist notwendig, da Menschen in solchen Zuständen oft keine realistische Einschätzung ihrer Ressourcen oder ihres eigenen Befindens vornehmen können.
Wenn bereits starke Erschöpfungssymptome vorhanden sind oder gar ein Burnout vorliegt, muss die Organisation dabei unterstützen, dass das betroffene Mitglied die medizinische und psychologische Hilfe erhält, die in dieser Situation erforderlich ist. Dies ist ein ausserordentlich wichtiger Punkt, da es von grosser Bedeutung ist, dass unsere Aktiven über lange Zeit gesund bleiben und im besten Fall bis ins hohe Alter in der SAO aktiv bleiben können. Diese internen Hilfestrukturen müssen formell sein, um sicherzustellen, dass diese wichtige Sorgearbeit auch von cis Männern übernommen wird, indem klare Mandate verteilt werden.
Wir müssen uns aber eingestehen, dass wir als neu gegründete Organisation in den nächsten Jahren unvermeidlich Phasen erleben werden, in denen wir all dies erleben werden. Natürlich werden wir gelegentlich mangelnde Klarheit in bestimmten Themen haben oder wir werden auch Strukturen in der Organisation auffinden, die nicht immer optimal passen und Schwächen oder Komplexitäten aufweisen.
Was für uns wichtig ist, ist das Bewusstsein, dass dies bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist und dass wir erkennen, dass solche Umstände emotionale Erschöpfung verursachen können. Daher müssen wir wachsam und aufmerksam sein, um einem Burnout unserer Mitglieder vorzubeugen. Doch wir sind zuversichtlich, dass wir in einigen Jahren ausreichend Erfahrung, Wissen und Qualifikationen gesammelt haben werden, um die Organisation zu erreichen, die wir anstreben aufzubauen.
Hoch die, die Kämpfen!
Es Lebe der organisierte Anarchismus!