Kaum ein Wort wird von Anarchist*innen mehr verwendet als der Begriff der Freiheit. Heute gibt es aber kaum noch anarchistische Debatten darüber, was Freiheit denn nun wirklich bedeutet. Viel zu oft wird einfach ein liberaler Freiheitsbegriff zum eigenen gemacht. Alles tun zu können, was einem anderen Menschen nicht schadet, ist unserer Meinung nach viel zu kurz gegriffen und verschleiert die historisch innerhalb des Anarchismus rege geführte Diskussion rund um den Freiheitsbegriff. Deshalb möchten wir in diesem Beitrag kurz darauf eingehen, was wir Anarchist*innen unter Freiheit verstehen.
Obwohl Anarchist*innen in ihren Debatten um Freiheit beim Individuum ansetzen, ist die Freiheit nicht als etwas zu verstehen, was ausserhalb von der Gesellschaft gedacht werden kann. Für Anarchist*innen kann ein Individuum nur dann frei sein, wenn es einer Gemeinschaft von Gleichen angehört, die durch Beziehungen der Solidarität verbunden sind.1 Anarchist*innen haben Freiheit auf zwei Arten definiert: als Nicht-Unterworfen-Sein unter Herrschaft (negative Definition) oder als reale Möglichkeit, etwas zu tun und/oder zu sein (positive Definition).
Lucy Parsons
Die Anarchistin Lucy Parsons drückte es folgendermassen aus: „Die Emanzipation wird Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einleiten.“2 Anarchist*innen sahen die Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität als voneinander abhängig an, sodass sie nicht losgelöst voneinander verstanden werden können.
Mikhail Bakunin
Im Jahr 1870 definierte Mikhail Bakunin Freiheit in negativer Weise, als er sich für „die umfassendste menschliche Freiheit in jeder Hinsicht, ohne die geringste Einmischung jeglicher Art von Herrschaft“ aussprach.3 1871 definierte Bakunin Freiheit dann auf positive Weise: Er schrieb, dass nur in „Gesellschaft und nur durch die gemeinsame Tätigkeit der ganzen Gesellschaft der Mensch Mensch wird“. Ebenfalls schrieb er „nur durch die gemeinsame und soziale Arbeit […] befreit [der Mensch] sich vom Joch der äusseren Natur; ohne diese Befreiung kann es für niemanden eine geistige und moralische [Befreiung] geben“. Zudem war Bakunin überzeugt, dass der Mensch sich „nur durch Erziehung und die Bildung vom Joche frei machen [kann], nur durch sie kann er die Triebe und Regungen seines eigenen Körpers seinem mehr und mehr entwickelten Geiste unterwerfen“.4
Bakunin geht also vom Individuum aus und beschreibt, wie der einzelne Mensch Freiheit erlangen kann. Individuelle Freiheit geht demnach nur in Gesellschaft, da durch eine gemeinsame Wirtschaft, von welcher alle profitieren, der Mensch erst die Güter erlangen kann, um sich zu entfalten. Wenn die materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, erlaubt dies dem Einzelnen, seine in ihm angelegten Potenziale zu entfalten. Des weiteren wird hier auch offensichtlich, dass für Bakunin – auf dem Boden der gemeinsamen materiellen Bedürfnisbefriedigung – die geistige und moralische Entfaltung des Menschen sich ebenfalls nur in Gesellschaft weiterentwickeln kann. Somit haben wir hier einen Freiheitsbegriff der zwar vom Individuum ausgeht, aber materialistisch und vor allem kollektiv ist.
Errico Malatesta
Malatesta versuchte eine positive und eine negative Definition kurz zusammenzufassen, indem er schrieb, dass die reale Möglichkeit der Menschen, zu tun und/oder zu sein, durch die Herrschaft anderer eingeschränkt werden kann, aber dass Freiheit „voraussetzt, dass alle die Mittel haben zu leben und zu handeln, ohne den Wünschen anderer unterworfen zu sein”.5 Daraus folgerte er die Notwendigkeit der „vollständigen Zerstörung der Herrschaft und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“.6
Rudolf Rocker
Alle diese Anarchist*innen waren der Ansicht, dass der Kern der Freiheit darin besteht, dass sie eine Voraussetzung für die volle menschliche Entfaltung darstellt. Dies im Sinne der Entwicklung innerer Fähigkeiten in vielfältigen Richtungen und der Verwirklichung des eigenen Potenzials. Rudolf Rocker formulierte dies folgendermassen: „Freiheit ist kein abstraktes philosophisches Konzept, sondern die konkrete vitale Möglichkeit für jedes menschliche Wesen, alle Kräfte, Fähigkeiten und Talente, mit denen es von der Natur ausgestattet wurde, zur vollen Entfaltung zu bringen.“7
Fazit
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für uns Anarchist*innen Freiheit darin besteht, dass Menschen solidarische und auf Gleichheit beruhende soziale Beziehungen aufbauen. Dies einerseits auf wirtschaftlichem Gebiet: Die Menschen sollen alle Güter und Dienstleistungen haben, die sie für die Entwicklung der in ihnen angelegten Potenziale brauchen (wie Essen, Wohnungen, Schule, öffentlicher Transport etc.), ohne dabei ausgebeutet zu werden. Andererseits sollen Menschen gesellschaftliche Entscheidungen demokratisch selbst fällen, anstatt dass sie unterdrückt den Befehlen einer Obrigkeit gehorchen müssen. Zudem dürfen keine patriarchalen, rassistischen oder sonstige unterdrückenden Strukturen bestehen, die die Menschen in ihrer Entfaltung hindern.
Ebenfalls treten Anarchist*innen dafür ein, dass Individuen wechselseitige, fürsorgliche Beziehungen eingehen, in denen jede Person handelt, um die fortwährende Freiheit und Gleichheit der anderen zu sichern. So schrieb Malatesta: „Solidarität, das heisst Harmonie der Interessen und Gefühle, die Teilhabe jedes Einzelnen am Wohl aller und aller am Wohl jedes Einzelnen.” Diese Solidarität „bewirkt, dass die Freiheit des Einzelnen nicht ihre Grenzen, sondern ihre Ergänzung findet, die notwendige Bedingung ihrer ständigen Existenz – in der Freiheit aller.”8
Dies sagt auch, dass Freiheit nicht in exklusiven Inseln besteht, sondern in der kollektiven Befreiung aller Menschen, wie dies Bakunin folgendermassen ausdrückt: „Nur dadurch bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen […] ebenso frei sind wie ich.“9
Quellen
- Alexandre Skirda (1996), Nestor Makhno – The Struggle Against the State and Other Essays ↩︎
- Charles H. Kerr (2004), Lucy Parsons – Freedom, Equality and Solidarity: Writings and Speeches ↩︎
- Arthur Lehning (1973), Michael Bakunin – Selected Writings ↩︎
- Trotzdem Verlagsgenossenschaft (2010), Michail Bakunin – Gott und der Staat ↩︎
- n Richards (1965), Errico Malatesta – His Life and Ideas ↩︎
- Davide Turcato (2019), Errico Malatesta – Towards Anarchy: Malatesta in America ↩︎
- Syndikat-A (2021), Rudolf Rocker – Anarcho-Syndikalismus ↩︎
- Davide Turcato (2014), Errico Malatesta – The Method of Freedom: An Errico Malatesta Reader ↩︎
- Arthur Lehning (1973), Michael Bakunin – Selected Writings ↩︎