Anarchismus und soziale Klassen

15. Oktober 2024

Dieser Post ist eine Übersetzung eines Beitrags des ITHA/IATH (Institut der Theorie und Geschichte des Anarchismus). Seit 2012 verbreitet und produziert ITHA/IATH Forschung über Anarchismus, revolutionären Syndikalismus und libertäre Bewegungen. Der Beitrag soll eine kurze Einführung in die anarchistische Analyse sozialer Klassen geben. Im deutschsprachigen Raum sind solche Konzepte eher unbekannt und es muss noch viel Übersetzungsarbeit geleistet werden. Wir wollen hiermit einen ersten Schritt in diese Richtung machen und hoffen, dass sich daraus auch ein neuer Diskurs und Interesse um anarchistische Klassenanalyse entwickelt.

Der Anarchismus ist eine Ideologie oder politische Lehre, die in ihren über 150 Jahren globaler Präsenz die Frage der sozialen Klassen als etwas Grundlegendes betrachtet hat. Der Anarchismus entstand im Rahmen der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) als eine sozialistische, revolutionäre und antiautoritäre Ausdrucksform eines Teils der unterdrückten Klassen. In seiner gesamten Geschichte haben die Anarchist*innen die sozialen Klassen in ihre Analysen der Realität, in ihre Strategien des Klassenkampfes und in ihre Konzepte der sozialen Transformation einbezogen. Immer mit dem Ziel die Klassengesellschaft zu überwinden.

Klasse als grundlegend zu bewerten, sollte nicht als eine Art Klassenreduktionismus betrachtet werden. Denn Anarchist*innen haben stets vielfältige Formen der Herrschaft kritisiert und bekämpft, die natürlich die Klasse umfassen, aber auch Nationalität, Rassismus, Sexismus oder die Unterdrückung von queeren Menschen. Daher unterscheidet sich die Klassenanalyse des Anarchismus von ökonomistischen Ansätzen (Überbetonung des Wirtschaftlichen), wie einige marxistische Analysen. Sie unterscheidet sich aber auch von Analysen, die soziale Klassen leugnen. Die anarchistische Analyse bricht mit nicht-relationalen und ökonomistischen Perspektiven, indem sie einen relationalen und multikausalen Ansatz vorschlägt, der von den Beziehungen im wirtschaftlichen Bereich ausgeht und sich auf die politischen und moralisch/intellektuellen Bereiche ausweitet.

Bakunin und Malatesta haben die kapitalistisch-staatliche Machtstruktur als eine Gesellschaft verstanden, die tief von Herrschaft geprägt ist. Diese Herrschaft zeigt sich, wie Malatesta betonte, in vier Formen: wirtschaftlich, politisch und intellektuell sowie moralisch. Im wirtschaftlichen Bereich handelt es sich um die wirtschaftliche Herrschaft oder die „Ausbeutung der Arbeit“, ein zentrales Merkmal der kapitalistischen Wirtschaft. Im politischen Bereich fördert der moderne Staat zwei Formen politischer Herrschaft: Die erste ist der Einsatz von physischer Gewalt oder einfach Zwang. Die zweite Form ist die Befugnis, Gesetze durchzusetzen, oder anders ausgedrückt, die politisch-bürokratische Herrschaft. Die intellektuell-moralische Form kann als der religiöse und universitäre Herrschaftsanspruch bezeichnet werden.

Der Klassenkampf hat verschiedene Ausdrucksformen: Er manifestiert sich auf spezifischere, mikrosoziale Weise, wenn er punktuelle Konflikte umfasst, zum Beispiel zwischen den Eigentümer*innen einer Fabrik (die Bourgeoisie) und den darin beschäftigten Arbeiter*innen (das Proletariat) oder zwischen einem Grossgrundbesitzer  und den ihm untergeordneten Bäuer*innen. Der Klassenkampf zeigt sich aber auch auf allgemeinere, makrosoziale Weise zwischen zwei grossen Gruppen: den herrschenden Klassen und den unterdrückten Klassen. Analytisch betrachtet sind letztere die wichtigsten, denn wie Bakunin betonte:

„All diese verschiedenen politischen und sozialen Existenzen“ – die konkreten und historischen sozialen Klassen – „lassen sich heute auf zwei Hauptkategorien reduzieren, die einander diametral entgegengesetzt und somit natürliche Feinde sind: die [herrschenden] politischen Klassen (…) und die [unterdrückten] Arbeiter*innenklassen.“

Für das Entstehen des kapitalistisch-staatlichen Machtmodells war bezüglich der Klassenstruktur sowohl der Aufstieg des Bürgertums und der modernen Bürokratie als auch die Entwicklung des städtischen und ländlichen Proletariats von Bedeutung. Ebenso prägend war die Integration ehemaliger Grossgrundbesitzer*innen und Bäuer*innen, deren Bedeutung abnahm, sowie neuer Mittelschichten und neuer religiöser, akademischer und kommunikativer Akteure. Diese Klassenstruktur ist der Hauptaspekt der kapitalistisch-staatlichen Herrschaftsstruktur. Der soziale Konflikt zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen stellt den wesentlichen Widerspruch dar.

„Durch ein kompliziertes Netz von Kämpfen aller Art – Invasionen, Kriege, Aufstände, Repressionen, Zugeständnisse, die gemacht und wieder zurückgenommen wurden, die Vereinigung der Besiegten, um sich zu verteidigen, und der Sieger*innen, um anzugreifen – hat sich der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft entwickelt, in der einige Menschen das Land und alle sozialen Reichtümer ererbt besitzen, während die grosse Masse alles entbehrt und von einer Handvoll Eigentümern frustriert und unterdrückt wird.“

– Errico Malatesta

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