100. Jahrestag des Kronstädter Matrosenaufstands – Erinnern heißt kämpfen! 

1. März 2021

Erinnern heißt kämpfen!

Internationale anarchistische Erklärung zum 100. Jahrestag des Kronstädter Matrosenaufstands von 1921.

“Die Arbeiter der ganzen Welt sollen wissen, dass wir, die Verteidiger der Macht der Sowjets, über die Errungenschaften der sozialen Revolution wachen werden. Für die gerechte Sache der Arbeitermassen kämpfend werden wir unter den Ruinen von Kronstadt siegen oder untergehen. Die Werktätigen der ganzen Welt werden über uns richten. Das Blut Unschuldiger wird auf den Köpfen der Kommunisten lasten, wilden, machtbesoffenen Wahnsinnigen. Es lebe die Macht der Sowjets!” –
Das Provisorische Revolutionäre Komitee von Kronstadt

Am 1. März 1921 erhob sich der Sowjet (russischer Begriff für einen basisdemokratisch gewählten Arbeiter*innen- und/oder Soldatenrat) der Marinefestung Kronstadt vor den Toren Petrograds (heute St. Petersburg) gegen das Regime der russischen “kommunistischen” Partei.
Der russische Bürgerkrieg war effektiv zu Ende, da die letzte der konterrevolutionären weißen Armeen im europäischen Teil Russlands im November 1920 besiegt worden war. In den verbleibenden Schlachten in Sibirien und Zentralasien ging es um die territoriale Ausdehnung der sich formierenden UdSSR. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren jedoch weiterhin katastrophal. Als Reaktion darauf brachen im Februar 1921 in Petrograd Streiks aus. Die Matrosen von Kronstadt schickten eine Delegation, um die Streiks zu untersuchen.

Hintergrund

Die Stadt Kronstadt liegt auf der Insel Kotlin, die die Zufahrtswege nach Petrograd überblickt. Sie beherbergte zur damaligen Zeit den größten russischen Marinestützpunkt und war seit 1905 eine Bastion revolutionärer Politik. Sie spielte eine herausragende Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917. Der Kronstädter Sowjet wurde im Mai 1917 gegründet, nicht lange nach dem Petrograder Sowjet.

Im Laufe des Jahres 1917 hatten sich die Sowjets im gesamten Russischen Reich vervielfacht und gefestigt. Im Oktober hatten sie die Provisorische Regierung gestürzt. Der Zweite Allrussische Sowjetkongress nahm die Macht in seine eigenen Hände. Der Allrussische Kongress stimmte jedoch einem Vorschlag der Bolschewiki zu, einen Rat der Volkskommissare zu ernennen, der als Exekutivkabinett über dem Sowjet agieren sollte. Die Bolschewiki verloren keine Zeit mit dem Aufbau eines Staatsapparats mit Zwangsbefugnissen. Entscheidend war, dass sie die lokalen und regionalen Sowjets dem zentralen Sowjet unterordneten.

Bereits im April 1918 begannen die Bolschewiki mit Repressionen gegen die Anarchist*innen und mit Säuberungen in den Sowjets. Die Oktoberrevolution hatte die Pressefreiheit und das Recht der Soldaten, ihre Offiziere zu wählen, eingeführt, aber die Bolschewiki machten diese und viele andere lebenswichtige gesellschaftliche Veränderungen im Laufe des Bürgerkriegs wieder rückgängig.

Die Unterdrückung jeglicher Opposition, der sogenannte Kriegskommunismus und die von Erschießungskommandos durchgesetzten Beschlagnahmungen sowie die Ausbreitung von Armut und Hunger sorgten dafür, dass sich viele der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die mit dem Bolschewismus sympathisiert hatten, wieder von ihm abwandten. Proteste der Arbeiter*innen und Bäuer*innen gegen die autoritären Maßnahmen der Bolschewiki waren von 1918 bis 1921 häufig, einschließlich mehrerer Wellen von Arbeiter*innenstreiks.

Die Petropawlowsk-Resolution

Die Petrograder Streiks vom Februar 1921 veranlassten die Kronstädter Matrosen, eine Delegation zu entsenden, die die Lage untersuchen und Bericht erstatten sollte. Die Matrosen selbst waren mit der Führung der Marine unzufrieden gewesen und hatten ihren Kommandanten im Januar abgesetzt. Der Bericht der Delegation veranlasste die Verabschiedung der Petropawlowsker Resolution (benannt nach einem der Schiffe, auf denen die Matrosen stationiert waren):

In Anbetracht der Tatsache, dass die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht zum Ausdruck bringen, unverzüglich Neuwahlen in geheimer Abstimmung durchführen und beim Vorwahlkampf volle Freiheit der Agitation unter den Arbeitern und Bauern geben

  • Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter und Bauern, für Anarchisten und linke sozialistische Parteien herstellen
  • Die Versammlungsfreiheit für Gewerkschaften und Bauernorganisationen sichern
  • Eine überparteiliche Konferenz der Arbeiter, Rotarmisten und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Provinz Petrograd, spätestens am 10. März 1921, einberufen
  • Alle politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien sowie alle Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen, die im Zusammenhang mit der Arbeiter- und Bauernbewegung inhaftiert sind, befreien
  • Eine Kommission zur Überprüfung der Fälle der in Gefängnissen und Konzentrationslagern Inhaftierten wählen
  • Alle politotdeli (Politbüros) abschaffen, weil keine Partei besondere Privilegien bei der Verbreitung ihrer Ideen oder die finanzielle Unterstützung der Regierung für solche Zwecke erhalten sollte. Stattdessen sollten Bildungs- und Kulturkommissionen eingerichtet werden, die lokal gewählt und von der Regierung finanziert werden
  • Alle zagryaditelniye otryadi (bolschewistische Einheiten, die bewaffnet sind, um den Verkehr zu zu reglementieren und Lebensmittel zu beschlagnahmen) sofort abschaffen
  • Rationen für alle Arbeitenden angleichen – mit Ausnahme derer, die in gesundheitsschädigenden Berufen beschäftigt sind
  • Bolschewistische Kampfkommandos in allen Zweigen der Armee und die bolschewistischen Wachen, die in Mühlen und Fabriken Dienst tun, abschaffen. Sollten sich solche Wachen oder militärische Abteilungen als notwendig erweisen, so sind sie aus den Reihen der Armee und in den Fabriken nach dem Urteil der Arbeiter zu ernennen
  • Den Bauern volle Handlungsfreiheit in Bezug auf ihr Land geben und auch das Recht, Vieh zu halten, unter der Bedingung, dass die Bauern mit ihren eigenen Mitteln wirtschaften, also ohne Lohnarbeiter zu beschäftigen
  • Alle Zweige der Armee, sowie unsere Genossen, die Offizierskadetten, auffordern, unseren Resolutionen zuzustimmen
  • Die Presse auffordern, unseren Resolutionen die vollste Aufmerksamkeit zu geben
  • Eine Kommission zur Kontrolle der Reisenden ernennen;
  • Die freie kustarnoye (individuelle Kleinproduktion) erlauben, vorausgesetzt sie geschieht durch eigene Anstrengung, nicht Lohnarbeit

(Anmerkung des Übersetzers: Wortlaut angepasst zum Zweck der Verständlichkeit)

Diese Resolution kann als zwei grundlegende Forderungen zusammengefasst werden: die Wiederherstellung der Sowjet-Demokratie und ein wirtschaftlicher Kompromiss mit den Bäuer*innen.

Aufstand und Unterdrückung

Am 1. März bestätigte eine vom Kronstädter Sowjet einberufene Massenversammlung die Petropawlowsker Resolution. Dies war der Beginn des Kronstädter Aufstandes. In den nächsten Tagen versuchten die Aufständischen, mit der bolschewistischen Regierung zu verhandeln. Sie erlaubten dem angereisten Staatsoberhaupt Kalinin, nach Petrograd zurückzukehren. Sie missachteten den Rat der zaristischen Offiziere (die von der Marine als technische Berater eingestellt worden waren), militärische Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich Angriffen auf das Festland. Die Bolschewiki erwiderten dies nicht und verhafteten Delegationen aus Kronstadt, die das Festland erreichten.

Die Regierung griff am 7. März an, wurde aber zurückgeschlagen, nachdem sie erhebliche Kräfte durch Überläufer verloren hatte. Ein ernsterer Angriff am 10. März wurde ebenfalls zurückgeschlagen, mit vielen Verlusten auf bolschewistischer Seite. Der letzte Angriff mit viel größeren Kräften erfolgte am 17. und 18. März und es gelang, Kronstadt einzunehmen und den Aufstand niederzuschlagen.

Vermächtnis

Heute erinnern sich Anarchist*innen aus zwei Gründen an den hundertsten Jahrestag des Kronstädter Matrosenaufstandes. Erstens zeigt er, dass es nicht stimmt, dass die einzige Alternative zum Kapitalismus in Russland das autoritäre und repressive Regime der sogenannten “kommunistischen” Partei war. Die Kronstädter*innen hatten die ursprünglichen Werte der Russischen Revolution am Leben erhalten und erhoben sie erneut gegen die Kommissarregierung der Partei. Sie scheiterten, weil die Menschen in Russland erschöpft waren, nicht weil ihre Ideen abgelehnt wurden.

Zweitens erinnern wir uns an Kronstadt, weil die wahre Geschichte des Aufstandes sich stark von den lügnerischen Versionen unterscheidet, die von verschiedenen leninistischen Gruppen propagiert werden und zeigt, wie weit die Bolschewiki von den Prinzipien abgewichen waren, auf denen die Oktoberrevolution basiert hatte. Die Kronstädter*innen wollten demokratische Sowjets, nicht eine konstituierende Versammlung, die nur eine kapitalistische Regierung einsetzen konnte. Sie lehnten Hilfe aus dem Ausland ab und wandten sich stattdessen an die Arbeiter*innen und Bäuer*innen Russlands. Und sie legten im Verlauf des Konflikts durchweg höhere Prinzipien an den Tag, indem sie zu jeder Zeit und sogar während der letzten Schlacht versuchten, sich mit den Regierungstruppen zu verbrüdern und sie politisch für sich zu gewinnen. Einige Leninist*innen, die verzweifelt versuchen, die Glaubwürdigkeit der bolschewistischen Denunziation des Kronstädter Aufstandes als konterrevolutionär zu verteidigen, zitieren Aussagen von Kronstädter Bolschewiki in der Folgezeit der Erhebung. Wir halten es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass diese Erklärungen von Menschen unterschrieben wurden, die im Gefängnis saßen und von Hinrichtung bedroht waren. Falsche Erklärungen können in der Regel für weitaus weniger Geld beschafft werden.

Die Bolschewiki (die sich damals “Kommunistische” Partei nannten) hielten ihren 10. Kongress während der Zeit des Kronstädter Aufstandes ab. Kritiker*innen des Aufstandes zitieren oft die Artikel der Petropawlowsk-Resolution, die einen unannehmbaren Kompromiss mit den Bauern forderten, erwähnen aber selten, dass der 10. Kongress die Neue Wirtschaftspolitik billigte, die ein weitaus umfassenderer Kompromiss war. In Wahrheit waren die Aspekte der Petropawlowsk-Resolution, die für die Bolschewiki inakzeptabel waren, diejenigen, die die Forderung nach Sowjet-Demokratie enthielten. Es waren die Bolschewiki, nicht die Kronstädter*innen, die sich gegen die Arbeiter*innenklasse stellten.

Heute arbeiten Anarchist*innen für neue Revolutionen der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Klassen weltweit und kämpfen für die vollste direkte Demokratie innerhalb dieser Klassen. Wir sind von den Aufständischen von Kronstadt inspiriert und wollen sicherstellen, dass sie ihr Blut nicht vergeblich vergossen haben, auch wenn sie nicht unmittelbar erfolgreich waren.

Alle Macht den Sowiets und nicht der Partei!
Lang lebe die Macht der frei gewählten Sowiets!


☆ Alternativa Libertaria / Federazione dei Comunisti Anarchici (Al/FdCA) – Italien
☆ Anarchist Communist Group (ACG) – Großbritannien
☆ Αναρχική Ομοσπονδία / Anarchistische Föderation – Griechenland
☆ Aotearoa Workers Solidarity Movement (AWSM) – Aotearoa/Neuseeland
☆ Coordenação Anarquista Brasileira (CAB) – Brasilien
☆ Devrimci Anarşist Faaliyet (DAF) – Türkei
☆ Die Plattform Anarchakommunistische Organisation – Deutschland
☆ Embat Organització Llibertària de Catalunya – Katalonien
☆ Federación Anarquista de Rosario (FAR) – Argentinien
☆ Federación Anarquista de Santiago (FAS) – Chile
☆ Federación Anarquista Uruguaya (FAU) – Uruguay
☆ Grupo Libertario Vía Libre – Kolumbien
☆ Libertäre Aktion Bern – Schweiz
☆ Melbourne Anarchist Communist Group (MACG) – Australien
☆ Organización Anarquista de Córdoba (OAC) – Argentinien
☆ Organización Anarquista de Tucumán (OAT) – Argentinien
☆ Organisation Socialiste Libertaire (OSL) – Schweiz
☆ Union Communiste Libertaire (UCL) – Frankreich
☆ Workers Solidarity Movement (WSM) – Irland
☆ Zabalaza Anarchist Communist Front (ZACF) – Südafrika

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